(Auszuege)
                     Wäre 
                    Hissam Chader doch auch so gläubig. In dem Maße, wie 
                    Randar an Gott und Arafat glaubt, ist Chader, ein 
                    schrulliger palästinensischer Rechtsgelehrter, überkritisch. 
                    Einmal kletterte er im Parlament aufs Podium, um voller 
                    Sarkasmus ein neues Gesetz vorzuschlagen: dass Jassir Arafat 
                    ein für alle Mal zum Gott von Palästina erklärt werde.
                    
                    Chader unterhält ein bescheidenes Büro im Flüchtlingslager 
                    Balata, einer Elendssiedlung am Rande von Nablus im 
                    Westjordanland. Hier war Chader aufgewachsen, und bei der 
                    ersten Intifada hatte er sich bereits politisch profiliert. 
                    Damals gehörte er zu den ersten Palästinensern, die von den 
                    Israelis per Hubschrauber in den Libanon deportiert wurden. 
                    Chader war durch und durch Fatah-Kämpfer - Arafats Fatah war 
                    damals wie heute die wichtigste politische Organisation -, 
                    und er verehrte Arafat, bis dieser aus dem Exil zurückkam 
                    und gemeinsam mit seinen Gesinnungsgenossen aus Tunis die 
                    palästinensische Autonomiebehörde übernahm. Chader war einer 
                    der ersten Palästinenser, die den Verdacht äußerten, dass 
                    sich die tunesischen Rückkehrer auf Kosten des Volkes 
                    bereicherten. Er warnte vor Korruption und rief die 
                    Regierung zu mehr Transparenz auf. Bei den Wahlen zum 
                    palästinensischen Legislativrat 1996, den Oslo ins Leben 
                    gerufen hatte, ließ Chader die Fatah links liegen und gewann 
                    als Unabhängiger.
                    
                    Einige Tage vor dem Termin bei ihm in Nablus hatten 
                    palästinensische Polizeibeamte im Gaza-Streifen sechs 
                    Palästinenser getötet, die aus Protest gegen Arafats hartes 
                    Durchgreifen gegenüber islamistischen Gruppen auf die Straße 
                    gegangen waren. Nachdem sich Arafat zuvor dem Druck der 
                    Israelis und der Amerikaner, die militanten Islamisten 
                    festzunehmen, widersetzt hatte, hatte er schließlich 
                    nachgegeben, weil er sich international zunehmend isoliert 
                    fühlte. 
                    
                    
                    
                    
                    Das war das Gesprächsthema in Chaders Vorzimmer. Chaders 
                    Assistent rief vehement aus: "Arafat ist ein Diktator!" Dann 
                    wurde er nervös und bat inständig, anonym bleiben zu dürfen. 
                    Chader, ein jovialer, schnauzbärtiger Typ, hatte da keine 
                    Bedenken. Er sagte, was er dachte, und bekräftigte seine 
                    Worte mit heiserem Gelächter.
                    
                    Während des Gesprächs schauten einige Fatah-Mitglieder bei 
                    Chader vorbei. Schulterklopfend versuchten sie, ihn zur 
                    Teilnahme an einem Demonstrationsmarsch in Nablus zu 
                    überreden, der am folgenden Tag stattfinden sollte. Denn 
                    nach dem blutigen Zusammenstoß im Gaza-Streifen wollten sie 
                    Solidarität für Arafat demonstrieren. Sämtliche Schulkinder 
                    der Region, Regierungsangestellte und natürlich le tout
                    Fatah würden dabei sein.
                    "Vergesst 
                    es", sagte Chader. "Diese Märsche werden nichts an der 
                    Tatsache ändern, dass unser Monsieur Arafat langsam, aber 
                    sicher seine Macht als Symbol für unseren nationalen Kampf 
                    verliert. Alles Viagra der Welt kann ihm seine Potenz nicht 
                    zurückgeben. Als die Israelis seinen Hubschrauber 
                    bombardiert haben, hättet ihr mich vielleicht überreden 
                    können, aus Solidarität mit Abu Amar auf die Straße zu gehen. 
                    Aber nicht am Ende einer Woche, in der palästinensische 
                    Sicherheitskräfte ihre eigenen Landsleute erschossen haben."
                    
                    Chader lachte über die für den Marsch vorgesehenen Fahnen, 
                    auf denen stand, Arafat sei "der Held der legendären 
                    Standhaftigkeit bei den Verhandlungen von Camp David". Doch 
                    diese Fahnen muss man verstehen. Obwohl viele Israelis und 
                    Amerikaner glauben, dass Arafats "Standhaftigkeit" in Camp 
                    David für die Sache der Palästinenser tödlich war, wird 
                    darüber unter den Betroffenen kaum debattiert. Die meisten 
                    Palästinenser glaubten jedoch, so vermutete Chader, dass 
                    ihnen Camp David nichts weiter gebracht habe als ein 
                    unausgegorenes, überstürztes Ultimatum zu einem Abkommen. 
                    Sieben Jahre schon hatte sich der Friedensprozess nach dem 
                    Abkommen von Oslo hingezogen, und viele Palästinenser hatten 
                    den Glauben an Arafats Fähigkeit verloren, sein Versprechen 
                    einzulösen: die Gründung eines palästinensischen Staates im 
                    gesamten Westjordanland und im Gaza-Streifen mit Jerusalem 
                    als Hauptstadt. Doch als er mit leeren Händen aus Camp David 
                    zurückkam, applaudierten sie ihm. Besser, noch eine 
                    Generation abzuwarten, sagten sie sich, als nach einem 
                    halben Jahrhundert des Kampfes einen ungerechten Frieden zu 
                    akzeptieren.
                    
                    
                    
                    
                    Als im Jahr 2000 der Aufstand der Palästinenser begann, sah 
                    Chader wie viele andere darin eine Explosion von Frustration 
                    - über den Friedensprozess und die palästinensische 
                    Autonomiebehörde. Seiner Ansicht nach ist die Intifada 
                    militärisch erfolgreich, und das erklärt er kurzerhand so: "Für 
                    jeden dritten Palästinenser wurde ein Israeli getötet. Das 
                    ist das erste Mal, dass wir ein solches Verhältnis erreicht 
                    haben. Es hat eine Balance der Angst auf beiden Seiten 
                    geschaffen. Und Israels Angst gibt uns mehr Einfluss. Sehen 
                    Sie doch, was aus Baraks Angebot zwischen Camp David und 
                    Taba geworden ist." Noch während die Intifada tobte, trafen 
                    sich nämlich israelische und palästinensische Unterhändler 
                    im Januar 2001 im ägyptischen Taba, wo die Israelis ihr 
                    Angebot an die Palästinenser erheblich verbesserten. Doch 
                    die Verhandlungen endeten ohne Ergebnis und wurden vertagt 
                    bis nach der Wahl, die Barak im Februar 2001 verlor. Seitdem 
                    haben keine Friedensgespräche mehr stattgefunden. 
                    
                    Chader findet jedoch, dass die Intifada zu einer Racheorgie 
                    verkommen ist und beendet werden sollte. Arafat sollte alles 
                    in seiner Macht Stehende tun, um die Israelis zurück an den 
                    Verhandlungstisch zu bringen, was seiner Einschätzung nach 
                    dazu beitragen würde, die Regierung Scharon zu stürzen. Doch 
                    er ist tief enttäuscht, dass es die palästinensische 
                    Regierung geschafft hat, die geballte Wut der Palästinenser 
                    gegen die Israelis zu richten, und dass es keinen wirklichen 
                    Aufstand gegen die Behörde selbst gegeben hat. Er selbst 
                    hatte versucht, den Zündstoff dafür zu liefern. In aller 
                    Öffentlichkeit hatte er hohe Beamte der Autonomiebehörde 
                    kritisiert, weil sie ihre Familien nach Ausbruch der 
                    Intifada ins Ausland geschickt hatten. Doch seine Kritik 
                    verpuffte.
                    
                    Im Falle einer Wiederaufnahme der Verhandlungen "werden uns 
                    also dieselben korrupten Menschen repräsentieren", sagte 
                    Chader. "Ich bete zu Gott, dass ich eines Morgens aufwache 
                    und diese Leute mit ihrem Geld und ihren Kindern nach Europa 
                    geflohen sind. Wenn ich Arafat wäre, würde ich versuchen, 
                    mein Haus in Ordnung zu bringen. Wenn er als Held sterben 
                    möchte, wird er das auch tun. Andernfalls geht er nicht in 
                    die Geschichte ein. In der Thora steht geschrieben, dass 
                    viele, die jetzt im Grab liegen, geglaubt haben, das Leben 
                    gehe ohne sie nicht weiter. Doch es geht weiter."
                    
                    